Der Demografiekongress 2017

Der Demografische Wandel macht eine Pause

Deutschland schrumpft? Das Gegenteil ist der Fall. Rente mit 70? Nicht in absehbarer Zeit. Fachkräftemangel? Ein Mythos. Beim 8. Demografiekongress in Berlin wurde so manche Prognose auf den Kopf gestellt. Doch auch wenn der demografische Wandel vielleicht etwas anderes ausfällt als erwartet – eine Herausforderung bleibt er trotzdem.

„Der Untergang ist abgesagt.“ Der 8. Demografiekongress in Berlin begann am 31. August mit einer bewussten Provokation. Es war der Wirtschaftswissenschaftler und Migrationsforscher Prof. Dr. Thomas Straubhaar, der in der Eröffnungsveranstaltung die „Mythen des demografischen Wandels“ widerlegte. Erste These: Deutschland schrumpft nicht, sondern wächst. Dies wird nach Straubhaars Ansicht über Jahre auch noch so bleiben. „Vergessen Sie alle Schrumpfungszenarien!“, sagte der Lehrstuhlinhaber für Internationale Wirtschaftsbeziehungen von der Universität Hamburg mit Blick auf Deutschlands Einwohnerzahl, die mit aktuell 82,8 Millionen einen neuen Höchstsand erreicht hat. Außerdem, so die zweite These: Die Deutschen werden immer älter, bleiben aber länger gesund und darum länger arbeitsfähig. Makroökonomisch sei das Altern also kein Problem, so lange die Arbeitsproduktivität hoch bleibe.

Dritte These: Einen Fachkräftemangel gibt es nicht und wenn, dann ist er hausgemacht. Denn warum habe der eine Betrieb in Brandenburg große, der andere dagegen keine Probleme, Nachwuchskräfte zu finden?“, fragte Straubhaar seine Zuhörerschaft. Würde man die arbeitsfähigen Frauen, Migranten und Älteren einbinden – also mehr in „die, die schon hier sind“, investieren - beispielsweise durch mehr Ganztagsbetreuung - dann gebe es keinen flächendeckenden Fachkräftemangel, erklärte der Ökonom. „Wir hätten dann sechs Millionen Arbeitskräfte mehr.“ Und sein Rezept gegen den Abbau von Arbeitsplätzen durch die Digitalisierung lautet: Bildung und Weiterbildung. Hier dürfe man nicht auf die Kosten gucken, appellierte der gebürtige Schweizer aus Hamburg, vielmehr seien modulare Bildungsstrukturen aufzubauen.

Im Kern alles richtig, hieß es in der anschließenden Diskussionsrunde mit Wirtschaftswissenschaftler Bert Rürup, Gewerkschaftsboss Rainer Hoffmann, Linken- Politiker Matthias Birkwald, BDA-Hauptgeschäftsführer Alexander Gunkel und Kongresspräsident Ulf Fink. Doch scheitert so manche These an der Lebenswirklichkeit. Zum Beispiel schrumpft die Bevölkerung der 20- bis 65-Jährigen, also der Erwerbsfähigen, bis 2030 um sechs Millionen. Und dass Frauen die entstehenden Lücken kompensieren werden, indem sie mehr arbeiten, ist nach Ansicht von Arbeitgeberverteter Alexander Gunkel eher nicht zu erwarten. „Obwohl die Erwerbsquote von Frauen seit Jahren steigt, wird die geleistete Arbeitszeit immer kürzer“, sagte er. Allerdings räumte er mit Blick auf andere Länder ein: „Da geht noch was.“

Rente mit 70 auf unbestimmte Zeit vertagt

Auch die Annahme, dass Menschen länger arbeiten, weil sie gesünder sind, bleibt wohl auf absehbare Zeit eher die Ausnahme als die Regel: Eine Krankenschwester ist nach Auskunft von DGB-Vorstand Hoffmann mit 60 Jahren „verschlissen“, ein Bauarbeiter mit 57. Nicht nur der Gewerkschaftler hielt eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters für absurd. Auch politisch scheint sie derzeit nicht durchsetzbar. Da der 2012 beschlossene Umstieg von 65 auf 67 Jahren noch über 30 Jahre Bestand habe, werde die Rente mit 70 so schnell nicht kommen, prophezeite SPD-Politiker Bert Rürup. „Bestimmt nicht in der nächsten Legislaturperiode.“

Die Ansicht, dass der demografische Wandel abgesagt ist, wie es Prof. Straubhaar eingangs darlegte, teilte Rürup nicht, auch nicht unter Berücksichtigung der Zuwanderung. Zwar sei der Altersquotient seit etwa sieben Jahren halbwegs stabil, jedoch steige er wieder, wenn die geburtenstarke Jahrgänge (1955 – 1969) demnächst in Rente gingen. „Der demografische Wandel macht lediglich eine Pause“, so Rürup.

Zahl der Pflegebedürftigen verdoppelt sich bis 2050

Keine Pause macht allerdings die Zahl der Pflegebedürftigen, die sich bis 2050 voraussichtlich verdoppeln wird. Schuld daran ist die steigende Lebenserwartung. So leben derzeit in Deutschland bereits 17.000 über Hundertjährige – Tendenz steigend. Da es gleichzeitig immer weniger Familienangehörige gibt, die bislang noch die Hauptlast der Pflege schultern, sinkt das Pflegepotenzial auf 60 Prozent. Städte und Gemeinden stehen also vor ganz konkreten Sorgen – stabiler Altersquotient hin oder her.

In manchen Landstrichen findet sich zum Beispiel kein ambulanter Pflegedienst mehr - weil sich die langen Anfahrten nicht rechnen. Eine Sorge, die auch den DAK-Chef Andreas Storm umtreibt. Er schlug daher vor, stärker in technische Assistenzsysteme zu investieren und über die Einrichtung sogenannter Pflegekompetenzzentren nachzudenken. Unter einem Pflegekompetenzzentrum versteht der ehemalige saarländische Gesundheitsminister eine Art „erweiterten Pflegestützungspunkt“, wo es neben Beratung und Schulung auch Ärzte und Betten für die Kurzzeit- und Verhinderungspflege geben soll. Bezahlt werden könnte dies aus den Mitteln des Fonds zur Umstrukturierung von Krankenhäusern, um ebendiese nicht mehr benötigten Häuser für die Pflege nutzbar zu machen. „So könnte die Pflege im kommunalen Bereich deutlich gestärkt werden“, meinte Storm. Die DAK sei bereit für ein erstes Pilotprojekt gemeinsam mit den Kommunen, signalisierte er.

Sorgende Gemeinschaften ersetzen oder ergänzen die Familie

Inwieweit die Kommunen bei solchen Vorhaben den Hut aufhaben sollen, ist noch nicht ausgemacht. Klar ist bloß, dass Kommunen heute schon Brücken zwischen Pflegeversicherung und ihren (alternden) Bürgern bauen. Künftig werden sie noch mehr Verantwortung übernehmen müssen. Vielerorts werden örtliche Altenhilfestrukturen aufgebaut, teils mit ehrenamtlicher Unterstützung. Allerdings fehlten vielen Kommunen das Geld, beklagte Dr. Irene Vorholz vom Deutschen Landkreistag. Kommunen seien in den Pflegestärkungsgesetzen weitgehend leer ausgegangen. Dabei sei Pflege viel mehr als Leistungen aus der Pflegeversicherung, sondern im Kontext von „sorgenden Gemeinschaften“ zu sehen.

Solche sorgenden Strukturen auf kommunaler Ebene hatte auch der jüngste Altenbericht gefordert. Der Vorsitzende der Siebten Altenberichtskommission Prof. Dr. Andreas Kruse aus Heidelberg bekräftigte auf dem Demografiekongress: „Nehmt das Thema Alter ernst und stärkt die Kommunen. Das ist Daseinsvorsorge.“ 

Schrumpfende Landkreise sind Realität

Allen „Wider-den-demografischen-Wandel-Prognosen“ zum Trotz: Viele Gemeinden schrumpfen eben doch. Zum Beispiel jene im saarländischen Saarpfalz-Kreis. Dieser Landkreis im Südwesten Deutschlands wird in den nächsten 10 bis 15 Jahren bis zu 20.000 Menschen verlieren, schätzt Landrat Theophil Gallo. Ein Demografiepakt mit den Kommunen soll es nun richten. Die noch junge Vereinbarung sieht die bessere Unterstützung und Vernetzung der Kommunen untereinander und mit Unternehmen und Zivilgesellschaft im Landkreis vor. So bastelt zum Beispiel im Moment ein Softwareunternehmen daran, Nachbarn besser zu vernetzen. „Wir versuchen, die veränderten Bedürfnisse der Menschen zu gestalten“, fasste der SPD-Politiker das ambitionierte Vorhaben zusammen.

Im hessischen Landkreis Marburg-Biedenkopf ist man schon einen Schritt weiter. Hier hat unter anderem der Bürgerverein Leben und Altwerden in Mardorf und Umgebung e.V. bereits sichtbare Zeichen gesetzt: Senioren werden zum Arzt begleitet, treffen sich beim Mittagstisch oder beim Spielenachmittag, und jeder kann sich beim Verein beraten lassen. „Bürger helfen Bürgern“, beschrieb Martina Berckhemer von der Altenhilfe des Landkreises das Unterstützungsnetzwerk. Auch hier greift der Landkreis den Kommunen unter die Arme, indem er die kommunalen Initiativen miteinander vernetzt und organisatorische Hilfestellungen gibt. „Wir wollen, dass die Älteren in unserer Gemeinschaft bleiben“, so Berckhemer.

Kommunen stärker fördern

Dass Kommunen stärker gefördert werden müssen, um genau dieses Ziel zu erreichen, war eine der zentralen Ergebnisse des Demografiekongresses. Denn Nachbarschaftshilfe ist kein Selbstläufer. Anders als in der Flüchtlingskrise, bei der 10 Prozent der Bevölkerung zupackten und ein Ehrenamt übernahmen – tut sich die Altenpflege deutlich schwerer: Nur 0,5 Prozent der Deutschen engagieren sich ehrenamtlich in diesem Bereich.

Ein weiteres Fazit: Weiterbildung ist das A & O für die Wirtschaft. Einmal, um dem Brain-Drain entgegenzuwirken, der mit der Berentung der Babyboomer erfolgen wird, aber auch um mit den technologischen Entwicklungen Schritt zu halten. Als ebenso wichtig wurde die Ausbildung von Flüchtlingen mit Bleiberecht angesehen.

Nach zwei Kongresstagen mit über 800 Teilnehmern aus Politik, Wirtschaft und dem Gesundheits- und Sozialbereich, 120 Referenten und 28 Veranstaltungen zog Kongresspräsident Ulf Fink eine erste Bilanz: „Wir haben gesehen, dass der demografische Wandel nicht in Stein gemeißelt ist, aber so oder so eine Herausforderung bleibt“, sagte er. „Ob es um die Integration junger Flüchtlinge geht, die Versorgung und Teilhabe von Pflegebedürftigen oder das Ausbluten von ländlichen Gemeinden, wieder mal hat sich der Kongress als Lernwerkstatt erwiesen und gezeigt, dass in unserem Land noch enorme Potenziale zu heben sind.“

Der nächste Demografiekongress findet am 20. und 21. September 2018 statt.

Text: Beatrice Hamberger

Verantwortlich:
Dr. Franz Dormann
Gesundheitsstadt Berlin GmbH